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Interview: Politik und Web 2.0

 

 

"Das Web 2.0 erfordert ein Umdenken in Politik und politischer Bildung"

Interview des bap (= Bundesausschuss Politische Bildung) mit dem Agora-Geschäftsführer Prof. Dr. Wolfgang Schumann.

Die Politische Bildung hat das "Web 2.0" für sich entdeckt. Kaum eine Tagung oder Konferenz, auf der die Neuen Medien nicht Thema sind. Ist das Social Web nicht überbewertet?

Gestatten Sie mir eine kleine aber wichtige Korrektur. Das Web 2.0 lässt sich keinesfalls nur auf das Social Web reduzieren, auch wenn dieses naturgemäß in der politischen Bildung besonderes Interesse finden. Aber zurück zur Frage: Um sie zu beantworten, muss man folgendes bedenken: Es gab in der Vergangenheit drei zentrale Hemmnisse für Forschung und Innovation, die den menschlichen Fortschritt massiv behindert haben. Dies war einerseits die Tatsache, dass Wissen weit verstreut und daher schwierig zu erschließen war. Hinzu kam, dass die Experten - und das müssen nicht nur Professoren sein - zu einem Gegenstand geografisch weit über den Erdball verteilt waren und drittens, dass sie sich aufgrund der Sprachbarriere nur schwierig, wenn überhaupt, verständigen konnten. Diese Hindernisse sind heute weitestgehend beseitigt. Mit dem Web steht ein zentrales Wissensrepositorium zur Verfügung. Über Web 2.0-Technologien lässt sich über jede geografische Distanz hinweg so zusammenarbeiten, als ob man Tisch am Tisch im gleichen Büro säße, und die Mail oder der Brief des russischen Kollegen sind mit einem Mausklick ins Englische oder Deutsche übersetzt.

Was hat das mit Politischer Bildung zu tun?

Sehr viel, denn diese Entwicklungen haben begonnen, auch die wesentlichen Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, also Gesellschaft, Politik, Regieren und Ökonomie, massiv zu beeinflussen und zu verändern. Alte Fragen, wie etwa die nach Möglichkeiten und Formen demokratischer Teilhabe, müssen neu gestellt werden. Diese Veränderungen aufzunehmen, zu analysieren, zu erläutern und zu vermitteln stellt meines Erachtens eine zentrale Aufgabe der Politischen Bildung dar. Das ist der entscheidende Punkt und nicht die Tatsache, dass ihr mit Web 2.0 neue Instrumente und Kanäle der Vermittlung, wie Wikis, Facebook oder Twitter, zur Verfügung stehen, so hilfreich diese und die dahinter stehende Kultur des Mitmachens für eine demokratische Politische Bildung auch sein mögen. Und um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Wer nur diese letztgenannte, wenn man so will "instrumentale" Seite des Web 2.0 sieht, er könnte tatsächlich den Eindruck eines überzogenen Hypes gewinnen. Wer dagegen die substanziellen, gerade kurz angerissenen Veränderungen von Politik im weitesten Sinne durch Web 2.0 in den Blick nimmt, der wird zu dem Schluss kommen, dass deren Implikationen kaum zu überschätzen sind.

Welche Chancen bieten die Instrumente und Kanäle des Web 2.0, beispielsweise bei der Ansprache neuer Zielgruppen?

Auch hier gilt es, wieder zwei Dimensionen auseinanderzuhalten, nämlich die Chancen für die praktische Politik und diejenigen für die Politische Bildung. Beispielhaft für das, was in der praktischen Politik möglich ist, steht der Wahlkampf von Obama. Wenn man sich beispielsweise die Anzahl seiner Unterstützer auf einigen der zentralen Plattformen während dieser Zeit - Facebook, MySpace oder YouTube - ansieht, die ja doch überwiegend von jungen Leuten genutzt werden, so finde ich das schon beeindruckend. Noch beeindruckender ist aber, wie der Wahlkampf und Obamas Botschaft inhaltlich und medial dort verarbeitet wurden. Die Videos "Yes We Can" sowie "It's a new day" des Hip Hop Stars Will.i.am belegenden das in sehr schöner Weise. Ins Allgemeine gewendet heißt das, dass die Instrumente und Kanäle des Web 2.0 sehr große Chancen bieten, allerdings nur wenn man sie als das begreift, was sie tatsächlich sind, nämlich gleichermaßen Indikatoren und Ermöglichungsbedingungen für einen grundlegenden Paradigmenwandel weg von der Hierarchie als Steuerungsform hin zu einer "Philosophie" des Miteinanders und des Teilens sowie der gemeinsamen Erstellung von Inhalten. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia - auch für sie würde übrigens der Slogan "Yes We Can" wunderbar passen - steht als Paradebeispiel dafür. Gleiches gilt selbstverständlich auch für die Politische Bildung. Wenn sie grundlegend nicht nur neue, sondern neuartige Realitäten, wie sie im Übrigen nicht nur das Web 2.0, sondern beispielsweise auch die Europäische Integration darstellen, nicht wirklich in der Substanz aufgreift und sich nicht bemüht, diese immens komplexen Phänomene begreifbar zu machen und zu vermitteln, werden auch mit Wikis, Twitter und Facebook neue Zielgruppen nicht dauerhaft gewonnen werden können.

Wo sind die Grenzen?

Wofür? Ich nehme an, für die Nutzung des Web 2.0 in der Politik und der Politischen Bildung. Hier ist für die Politik zu sagen, dass die Entwicklung etwa bei der Nutzung und Nutzbarmachung von Web 2.0-Tools und -Philosophie zur Verbesserung der praktischen Regierungsarbeit eben erst so richtig begonnen hat. Als ein Beispiel dafür nenne ich das Memorandum "Transparency and Open Government", das Obama gleich nach seinem Amtsantritt auf den Weg gebracht hat, um die Bürgerinnen und Bürger aktiv an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Naturgemäß sind hier auch Schwierigkeiten aufgetaucht. Einerseits wäre hier die, gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl, zum Teil relativ dünne Beteiligung der Bürger zu nennen, als es darum ging, der Administration Ideen und Vorschläge zu konkreten Projekten online, über entsprechende Web 2.0-Plattformen, zu übermitteln. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie die dann absolut betrachtet doch große Anzahl von Beiträgen in eine überschaubare Zahl von Alternativen gebündelt werden soll. Eine Funktion, die im liberal-demokratischen System bislang primär das so genannte intermediäre System, also Parteien, Interessengruppen und Medien, wahrnimmt. Was die Grenzen für die Politische Bildung angeht, so lässt sich dazu meines Erachtens zum jetzigen Zeitpunkt mangels Vorliegen breiterer Erfahrungen nichts sagen.

Wo bieten die Möglichkeiten des Web 2.0 einen konkreten Mehrwert?

Der potenzielle Mehrwert für die Politik scheint mir sehr hoch. Kurz gesagt kann Politik, inklusive der Regierungsarbeit, demokratischer und in der Substanz besser werden. Stellen Sie sich doch einfach einmal vor, man würde bei den Diskussionen um eine Gesundheitsreform über Web 2.0-Tools auch Patientinnen und Patienten mit ihren Erfahrungen beteiligen. Und mit beteiligen meine ich nicht, sie am Ende des Entscheidungsprozesses über Option A oder B abstimmen zu lassen, sondern sie schon zu Beginn und während des Prozesses mit Ideen und Vorschlägen zu Wort kommen lassen. Bei ihnen handelt es sich nämlich auch um Experten, die eine wichtige, andersartige Perspektive einbringen könnten. Ich bin überzeugt davon, dass das die Chance böte, einige Probleme in der Umsetzung - und womöglich aufwändige Korrekturen - zu vermeiden.

Und mit Blick auf die Politische Bildung: Wo liegen Potenziale, beispielsweise in der Verzahnung von "online" und "offline", also beispielsweise mit Veranstaltungen?

Hier möchte ich auf unsere eigenen Erfahrungen bei agora-wissen verweisen. Wir haben im Herbst vergangenen Jahres ein einwöchiges Seminar zum Thema "Politische Bildung und Web 2.0" mit Lehrerinnen und Lehrern aus Österreich durchgeführt. Bevor wir überhaupt richtig begonnen haben, haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter unserer Anleitung einen so genannten Weblog, ein typisches Instrument des Web 2.0, eingerichtet. Jeder der Teilnehmer hat dort am Abend, nach Abschluss eines Moduls, über die Einheit einen Bericht eingestellt, so dass am Ende des Seminars alle Inhalte dort dokumentiert waren. Der Blog wird auch jetzt, nach Abschluss des Seminars weitergeführt, und wir nutzen ihn vor allem, um die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars, aber auch alle anderen an der Thematik Interessierten, über neue Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Drei der Teilnehmer haben weiterhin einen zweiten Blog eingerichtet, auf dem alle Mitglieder des Studiengangs "Politische Bildung als Unterrichtsfach", also ein weit über das Seminar hinausreichender Kreis, posten und sich über aktuelle Themen der Politischen Bildung austauschen. Das sind Elemente, die in ihrer Bedeutung für eine erfolgreiche Politische Bildung kaum zu überschätzen sind.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Fehler im Umgang mit Web 2.0? Oder anders ausgedrückt: Droht die Politische Bildung nicht in Substanzlosigkeit zu versinken, wenn sie versucht, komplexe Sachverhalte wie beim Twittern in 140 Zeichen packen?

Kein vernünftiger Mensch würde versuchen, die EU, das politische System Deutschlands, die Außenpolitik der USA etc. oder auch nur Teilaspekte davon in 140 Zeichen zu erklären. Darum geht es aber bei Twitter auch nicht. Twitter dient, in Ergänzung zu anderen Instrumenten, für mich persönlich dazu, mich in meinen Interessensgebieten auf dem Laufenden zu halten, weil dort immer mal wieder auf interessante aktuelle Quellen verwiesen wird, die ich mir dann ansehen kann. Und diese Quellen, wie etwa ein Buch oder eine umfangreiche Website, können durchaus einen veritablen Umfang besitzen, der es erlaubt, sich sehr eingehend und differenziert mit komplexen Themen auseinanderzusetzen.

Und allgemein betrachtet?

Einer der schwerwiegendsten Fehler im Kontext von Politischer Bildung und Web 2.0 würde meines Erachtens darin bestehen, das Web 2.0 einfach auf einige neuartige Tools zu reduzieren, auf Kanäle, die man jetzt mit den gewohnten Inhalten füllen und nutzen könnte. Alter Wein in neuen Schläuchen sozusagen. Es geht aber vielmehr um einen grundlegenden Paradigmenwechsel, der in der Politik wie in der Politischen Bildung vor allem eines erfordert, nämlich ein Umdenken. Die Grundidee dabei ist eigentlich ganz simpel. Das Potenzial an Engagement und Sachverstand, das sich etwa in dem Wikipedia-Projekt, aber auch in unzähligen anderen, zeigt, soll mit Hilfe von Web 2.0-Tools für Politik und Regierungen erschlossen werden. Dabei würde Politik nur das nachvollziehen, was im Bereich der Wirtschaft bereits von vielen, gerade auch großen Unternehmen erkannt und vorgemacht wurde. Zahlreiche beeindruckende und verblüffende Beispiele dafür finden sich in dem Bestseller Wikinomics.

Ein kurzes Fazit: Wird das Web 2.0 die politische Bildungsarbeit nachhaltig verändern?

Der politischen Bildungsarbeit stehen neuartige, für demokratische politische Bildung besonders geeignete Instrumente zur Verfügung und sie kann auf ein Grundpotenzial an Engagement und Bereitschaft zum Mitmachen zurückgreifen, das im und über das Web 2.0 erschlossen und deutlich wurde. Um wirklich erfolgreich zu sein wird es aber vor allem darauf ankommen zu zeigen, welches Potenzial das Web 2.0 zur Veränderung der praktischen Politik im Sinne von mehr Transparenz, demokratischer Partizipation und Zusammenarbeit offeriert, aber auch deutlich zu machen, dass die Nutzung dieser Möglichkeiten von allen Beteiligten, Politikern wie Bürgern, Umdenken und (mehr) Engagement erfordern.

[http://www.bap-politischebildung.de/DE/4624/InterviewProf.Dr.WolfgangSchumann.php]

 

   

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